Im Osten was Neues
Am letzten Sonntag, dem 4. Mai, war es besonders voll um die Kaffeetische auf der Empore der Zionskirche. Das vierte und letzte Erzählcafé richtete aus aktuellem Anlass den Blick etwas weiter nach Osten, nämlich nach Russland und in die Ukraine. Die Medien sind voll mit Berichterstattungen von den Protestbewegungen in der Ukraine, von Konflikten der Ukraine mit Russland, von Machtkämpfen, Opposition und auch Gewalt. All dies wurde ursprünglich im November 2013 ausgelöst, als die Ukrainische Regierung überraschen ankündigte, ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union 2013 nicht zu unterzeichnen. Proteste der Bevölkerung gegen diese Entscheidung wurden mit Hilfe von Staatsgewalt flach gehalten – und die Proteste entwickelten sich zu einer bis heute andauernden Protestbewegung.
Vor dem Hintergrund unserer eigenen, deutschen Geschichte will das Themenjahr „Hier stehe ich“ und „Widerstandsräume: 25 Jahre Friedliche Revolution“ die aktuellen Konflikte, die sich durchaus ebenso unter die Überschrift Ost-West Konflikte stellen lassen, nicht unbeachtet lassen. Um von ihren Erfahrungen und Einschätzungen zu erzählen, trafen sich am letzten Sonntag die ukrainische Fotografin Yevgenia Belorusets, der Mitbegründer von „Demokratie Jetzt“ Stephan Bickhardt, Dr. Mischa Gabowitsch, russischer Soziologe und Autor von „Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur“, und der Bürgerrechtler Reinhard Weißhuhn, der eng mit der ungarischen Opposition zu DDR Zeiten verflochten war und z.B. deren Texte übersetzte. Moderiert wurde das Café
von Pfarrer Thomas Jeutner.
Das erste große Thema, das die Podiumsgäste in Zusammenhang mit dem Maiden aufgriffen, war das Thema der medialen Berichterstattung. Yevgenia Belorusets, die eine Fotoreihe über den Euromaidan veröffentlicht hat, berichtet von den Schwierigkeiten, staatliche Propaganda von echten Nachrichten zu unterscheiden. “Durch die Medieninterpretationen entstehen viele ‘Realitäten’. Vor allem durch dokumentarisch wirkende Fotografie wirkt alles immer sehr glaubhaft. Aber man muss sehr genau aufpassen, wem man glauben will und wem man in der Berichterstattung vertrauen will”. Sie fragt sich: “Wie ist es möglich, dass in einem Zeitalter, wo jeder eine Kamera im Handy hat, jeder Internet hat, mitunter große Fälschungen der Tatsachen möglich sind?” Und zieht das Fazit: “Die Aufgabe ist es, kritisch zu sein! Nicht in Fallen zu tappen! Das ist die Aufgabe für jeden Einzelnen, aber auch für Europa, für die Ukraine und für Russland!”
Hier nocheinmal Yevgenias Aufforderung zum Nachhören:
Mischa Gabowitsch spezifiziert: Kritisch sein heißt auch, Aufmerksam und kritisch Informationen zu sammeln: IM Falle der Ukraine heißt das zum Beispiel:
Reinhard Weißhuhn zieht den Bogen zur DDR und bemerkt, dass Kritiker in der DDR die von der SED kontrollierten Nachrichten in der Regel für reine Propagandawerkzeuge hielten. Daher war man geneigt, alles außerhalb der eigenen Mauerseite für wahrer zu halten und gierte nach Informationen aus dem Westen. Heute, wo die Medienlandschaft komplexer und oft scheinbar freier aufgebaut ist, ist es eine größere Herausforderung an den Einzelnen, sich Informationen zu beschaffen und diese kritisch zu beleuchten: “die eigene Bewertung der Informationen ist letztlich Maßgeblich für das eigene Bild, das man sich von einer Situation macht”
Neben den Medien, die über den ganzen Zeitraum des Gesprächs eine große Rolle spielen, kristallisieren sich noch zwei weitere Kernthemen heraus, die bei den Revolutionen im Osten seit der DDR eine Rolle gespielt haben, bzw. sie heute noch spielen: Die von Stephan Bickhardt so betitelte “Selbstermächtigung des Menschen” um die frei werdende Energie während einer Protestwelle in geordnete, bleibende Strukturen zu überführen und der Abschied vom Marxismus, einhergehend mit der drohenden Gefahr ins Rechte politische Lager abzurutschen.
Yevgenia über die Entwicklungen, die aus den Protesten des Maidans hervorgegangen sind:
“Maidan hat nie ein eigenes Protestprogramm geschaffen, keine Systemverändernden und menschrechtlichen Forderungen gestellt. Die Bewegung ist somit eine einzige, große Projektionsfläche. Für Russland, die der Bewegung faschistische Motivation unterstellt, oder für Europa, die den Ruf nach Freiheit in die Bewegung interpretieren. Wir müssen in der Ukraine Plattformen schaffen, die die Bewegung in eine stabile Struktur und in echte Forderungen überführen können! Bickhardt stimmte diesen Forderungen zu und ergänzte, dass die “selbstermächtigte Zivilgesellschaft” gemeinsam mit einer modernen Kirche eine starke Partnerschaft zu diesem Zwecke eingehen könnte.
Vor allem während der Diskussion mit dem Publikum werden dann Beiträge laut, die die Besorgnis äußern, dass die Abkehr vom Marxismus zu einer Hinwendung zum Nationalismus bzw. Faschismus in den ehemals sowjetisch geführten Ländern geführt hätte. Mischa Gabowitsch erwidert darauf, dass die durch deutsche Geschichte geprägten Begriffe nur mit Vorsicht auf andere Länder und andere Zeiten anzuwenden sind. Hinter der Fassade des rechten Flügels in der Ukraine verberge sich eine gänzlich andere Idee oder Ideologie wie hierzulande bei den Nationalsozialisten üblich sei. “Die national ausgerichtete Partei in der Ukraine wurde zum Beispiel als Protest gegen die anderen Möglichkeiten gewählt. Das heißt nicht, dass deswegen 10% der Bevölkerung Nationalisten sind”
Und wieder betont er einen der Wahlsprüche dieses Erzählcafés: “Wer verstehen will, was jetzt dort im Osten passiert, der muss sich von seinen eigenen, normativen Begrifflichkeiten entfernen!”